NA Infocenter

Erfolgsgeschichten

Studierter Süchtiger

Der Polizeifunk krächzte eine Beschreibung von mir an alle Dienststellen. Ich rannte durch die morgendliche Eiseskälte und arbeitete mich im Zickzack zu meiner Wohnung durch. Ich drehte das Futter meiner Jacke nach außen, damit sie eine andere Farbe hatte. Ich kroch durch die Hinterhöfe einer Universitätsstadt im Mittleren Westen der USA – ein ausgemergelter, durch Drogen verwirrter Nachwuchs-Rambo. Angstvoll fragte ich die Nachbarn, ob sie die Polizei in der Nähe gesehen hätten, mit panisch aufgerissenen Augen, meine Jacke umgestülpt, und seit Tagen ohne Schlaf. Sie versicherten mir nervös, dass sie niemanden gesehen hatten. Ich ging rein, warf meinen Drogenvorrat weg und versank trotz der drohenden Hausdurchsuchung in tiefen Schlaf.

Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich den „Polizeifunk“ auf der Toilette eines verlassenen Universitätsgebäudes gehört hatte, um 4 Uhr morgens am Tag vor Erntedank. Die Wahnvorstellung meiner bevorstehenden Verhaftung fühlte sich so echt an, dass sie mich zu dieser erbärmlichen und panischen Reaktion verleitete. Ich hatte mir seit drei Tagen ohne Schlaf eine Abwandlung von Methamphetamin gespritzt und die Überdosis hatte eine vorübergehende Psychose hervorgerufen.

Ich hatte diese bestimmte Droge in der Fakultät für Pharmakologie gefunden, an der ich promovierte.Sie war die letzte Errungenschaft meiner intensiven Forschungen. Mein Studium war nur noch ein fadenscheiniges Deckmäntelchen; meine Hauptbeschäftigung war die Suche nach Drogen. All das spielte sich ab unter den Augen meiner Kommilitonen, Mitarbeiter und Professoren, die zunehmend besorgt waren wegen meines seltsamen Benehmens und meines nachlassenden Erscheinungsbildes. Als man merkte, dass Substanzen aus den Laboren verschwanden, wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Das Beschaffen wurde zunehmend schwieriger und ich wurde immer weniger wählerisch, je mehr mein Appetit nach Drogen zunahm. Chemisch verursachte paranoide Schizophrenie ist nicht gerade ein toller Drogenrausch, aber ich hatte den Punkt überschritten, an dem mein Drogennehmen noch etwas mit Entspannung zu tun hatte. Drogen waren zum Mittelpunkt meines Lebens geworden.

„Die Nacht der Verfolgung durch die Polizei“ ist nur einer der Tiefpunkte, die ich erreichte, bevor ich mir Hilfe suchen konnte. Wegen meines Drogennehmens hatte meine Freundin mich schließlich aufgegeben und rausgeworfen. Meine Haut sah grau aus, meine Arme und Beine waren von Einstichstellen übersät und mein Tagesablauf war zusammengebrochen. Alles, was ich wusste, hatte und konnte, drehte sich nur noch ums Beschaffen. Mein Arbeitsplatz und auch der Ruf und die Karriere meiner Kollegen waren in Gefahr. All das machte selbst mir klar, dass ich ein Problem mit Drogen hatte. Gegen Ende sah ich ein, dass der Tod durch eine Überdosis ein Ausweg sein könnte. So weit hatte mich meine Sucht gebracht. Ich hatte nur noch Angst und den Drang, um jeden Preis Drogen zu nehmen. Mein größter Irrtum war, dass mein Problem ausschließlich mit mir zu tun hatte; entweder ich würde es selber lösen oder niemand konnte das. Isolation pflastert den Weg zur aktiven Sucht und sie brachte mich fast um.

Mein Verhalten brachte schließlich eine Lösung, aber nicht die, die ich mir vorgestellt hatte. Ich spritzte mir auf der Toilette eine Droge als Gegenmittel gegen eine andere. Ich brach zusammen und kam im Beisein zweier entsetzter Hausmeister wieder zu mir, die dachten, ich sei tot. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und aus dem Doktorandenprogramm rausgeworfen mit der Mitteilung, dass man die Polizei rufen würde, sollte ich je wieder das Gebäude betreten. Meine wissenschaftliche Karriere endete und meine Genesung fing an.

Aus der Universität geworfen zu werden war das Beste, das mir je passiert ist. Ich hörte zwar nicht plötzlich auf, Drogen zu nehmen; ich war noch nicht fertig. Aber es hatte sich etwas verändert. Dieser Verlust, zusammen mit allen anderen Verlusten, brachte mich dazu zuzugeben, dass ich mein Problem womöglich nicht im Griff hatte. Ich ahnte, dass es vielleicht anders laufen könnte, aber ich wusste noch nichts über das cleane Leben. Das mussten mir erst andere Leute zeigen.

Die Krankheit Sucht schert sich nicht um soziale und wirtschaftliche Grenzen. Wenn jemand diese Krankheit hat, werden die Drogen ihn finden. Die Art und Weise kann sich sehr unterscheiden, aber das Ziel ist immer dasselbe. In meiner Familie gab es keine Misshandlungen. Ich lebte in einer wohlhabenden Stadt und ging auf ausgezeichnete öffentliche Schulen. Ich hatte ein gemütliches Zuhause und eine Familie, die liebevoll, aber von meinem selbstzerstörerischen Verhalten verblüfft war. Ich hatte Talent, Gesundheit, Chancen, Freunde und jede Menge materielle Unterstützung. Aber ich bin anders als normale Leute; bei mir war die Sucht vorprogrammiert. Heute kann ich sehen, dass es schon ganz früh in meinem Denken und Verhalten Hinweise darauf gab.

Ich entdeckte die üblichen Sachen, die man in der Schule macht, um high zu werden. Aber für mich fühlten sich diese Erfahrungen wichtig an. Ich erinnere mich noch lebhaft an meinen ersten Vollrausch mit Alkohol und an jedes erste Mal mit einer langen Liste anderer Drogen. Mein Drogennehmen erschien kontrolliert, aber ich nahm in der Zeit am Gymnasium jeden einzelnen Tag, und zwar alle Drogen, die es gab. In der Universität tat ich regelmäßig haarsträubende, selbstsüchtige und gefährliche Dinge, um Drogen zu kriegen. Ich liebte das Studentenleben und das Lernen, führte aber ständig mein Doppelleben des Drogennehmens.

Der Süchtige in mir ist unglaublich kreativ, wenn es um das Finden und Nehmen von Drogen geht. Als es Zeit für die Promotion wurde, fand ich Pharmakologie tatsächlich faszinierend. Aber es war auch eine Entscheidung, die jemandem, der keine Erfahrung auf der Straße hat, den Zugang zu Drogen ebnete. Einige Jahre konnte ich meine berechtigten Ziele noch verfolgen, während gleichzeitig ein tödlicher Prozess ablief. Je mehr meine Ziele meinem Drogennehmen im Weg standen, desto häufiger ließ ich sie fallen. Wie meine Krankheit voranschritt, konnte man an all den faulen Kompromissen sehen, die ich mit mir selber schloss und wieder über den Haufen warf. „Ich nehme unter der Woche nichts“ wurde zu „Ich nehme tagsüber nichts“, dann zu „Ich werde nie Drogen spritzen“ und zu „Es soll aber nicht meiner Karriere schaden“ und schließlich wurden Drogen zu meiner Karriere. Meine wissenschaftlichen Kenntnisse über Drogen standen meiner Genesung auf gefährlicher Weise im Weg. Ich war überzeugt, dass mein Wissen über Drogen es mir ermöglichen würde, sie zu kontrollieren. Nun sehe ich, dass das ungefähr so ist, als würde sich ein Waffenexperte für kugelsicher halten. Meine Arroganz und Selbsttäuschung wären lustig gewesen, wenn sie mich nicht um Haaresbreite umgebracht hätten.

Meine Genesung begann damit, dass einer der Professoren, die ich während meines Drogennehmens verarscht hatte, sehr freundlich war. Er war wirklich großzügig und vermittelte mich an einen Drogenberater, der sich nicht von meiner Art, Leute mit meiner Ausbildung zu blenden, täuschen ließ. Bei meiner ersten Sitzung mit ihm sah ich schrecklich aus und hörte mich irre an, meinte aber, es völlig im Griff zu haben. Aber irgendwo in meinem verwirrten Gehirn gab es auch den Wunsch, etwas zu verändern. Dieser Drogenberater war der erste Mensch, den ich je getroffen hatte, der sich selbst einen Süchtigen nannte und wusste, wie man ohne Drogen leben kann. Das machte mich neugierig; ich wollte mehr erfahren. Erst gewann er mein Vertrauen, und dann ließ er ein paar Wochen später die Falle zuschnappen: „Wenn du weiter hierher kommen willst, musst du noch was anderes tun.“ Noch mehr Tests? Leseaufgaben? Medizinische Untersuchungen? Nein. „Wenn du weiter zu mir kommen willst, dann musst du anfangen, in Meetings zu gehen.“ Obwohl ich misstrauisch und voller Angst war, beschloss ich, dass ich wohl besser dahingehen sollte. Ein manipulierender Süchtiger, der erfolgreich von einem genesenden Süchtigen manipuliert wurde!

Ich ging tatsächlich hin. Meine „Ich bin anders“-Sensoren waren auf Höchstleistung eingestellt, um möglichst viele Unterschiede zwischen mir und diesen Leuten zu finden und zu diesem Haufen nicht zu gehören. Ich war arrogant und bewertend und achtete nur auf die oberflächlichen Unterschiede, nicht auf innere Ähnlichkeiten. Es gab jedoch einen Unterschied, der mich überraschte. Ich hatte mir die Schritte vorgestellt als eine Art Anleitung, keine Drogen zu nehmen – „Schritt Eins: keine Opiate nehmen. Schritt Zwei: nichts spritzen …“, aber als die Zwölf Schritte vorgelesen wurden, war darin nicht einmal von Drogen die Rede! Der ganze Raum war voll von Leuten, die clean blieben, indem sie eine Reihe von Ideen anwendeten, die ich noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. Da meine Vorstellungen über das Cleanbleiben jämmerlich versagt hatten, erfüllte es mich mit Hoffnung, dass diese Leute etwas anderes taten und andere Ergebnisse erzielten.

Manche Leute erleben Genesung wie einen Blitzschlag: ein plötzliches Aufleuchten von Verstehen und Klarheit und ein sofortiges Verschwinden des Wunsches, Drogen zu nehmen. Bei mir wirkte das Programm eher wie Regen oder Wind, indem es langsam meine falschen Vorstellungen wegwusch. Dieser Prozess setzt sich an jedem Tag fort, an dem ich clean bleibe. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass ich eine unheilbare, tödliche Krankheit habe, an der ich keine Schuld habe, wohl aber habe ich die Verantwortung für meine Genesung. Allmählich begriff ich, dass die Gemeinschaft ein Gegengift zur Sucht ist und Isolation eine Voraussetzung für einen Rückfall. Ich muss mich immer daran erinnern, dass ich die wertvollsten Informationen über die Genesung von anderen höre und nicht in meinem eigenen lauten Kopf. Ich tue mich immer noch schwer mit der Tatsache, dass man in Genesung oft richtig handeln kann, ehe man etwas wirklich verstanden hat. Dagegen sträubt sich der Wissenschaftler in mir. An manchen Tagen lerne ich etwas dazu und an anderen Tagen fühlt es sich an, als würde ich auf der Stelle treten. Aber solange ich clean bleibe, ist die Langsamkeit meiner Genesung kein Problem. Der Prozess ist nie zu Ende, also muss man sich auch nicht beeilen.

Das Leben, das ich heute habe, ist das unwahrscheinliche Geschenk der Genesung. Ich bin Professor an einer großen Universität. Meine Kollegen sind klug, kreativ und dynamisch. Es erfüllt mich mit Demut, mit ihnen zu arbeiten, und ich fühle mich geehrt durch ihren Respekt und ihr Vertrauen. Ich habe lang anhaltende Freundschaften innerhalb und außerhalb von NA, eine gesunde Beziehung mit meiner Familie und den Luxus, meinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das ich liebe und wertschätze. Ich fühle mich wirklich gesegnet und verdanke all dies der Lebensweise von NA. Das heißt nicht, dass mein Leben perfekt ist. Ich habe Probleme und Ängste, bin manchmal frustriert und leide ständig unter einem niedrigen Selbstwert. Aber ich kann mir vorstellen, wo ich gelandet wäre, wenn ich nicht clean geworden wäre. Im Gymnasium hatte ich einen Freund namens Mike. Wir hatten einen ähnlichen Werdegang. Wir interessierten uns beide für die Wissenschaft, studierten Pharmakologie, nahmen beide heftig Drogen und glaubten beide, dass unser Wissen uns beschützen würde. Mike starb jedoch vor über zwanzig Jahren an einer Überdosis. Ganz gleich, was im Alltag passiert, mein Leben ist ein Geschenk, und das verdanke ich der Genesung.

„Du kannst alles haben, was du willst, wenn du bereit bist, den Preis dafür zu bezahlen.“ Das ist ein oft zitierter NA-Spruch aus unseren Meetings. Für mich geht es dabei nicht nur um das, was ich vielleicht noch bekommen will, sondern auch darum, was ich schon bekommen habe. Mein Sponsor hat mir beigebracht, dass ich für jeden cleanen Tag bei NA in der Schuld stehe, und ich bin bereit, heute den Preis für meine Genesung zu bezahlen. Der Preis dafür, in meiner Genesung weiter zu wachsen, ist, auch anderen dieses Geschenk anzubieten. Als ich diesen Weg noch nicht kannte und keine Erfahrung hatte, halfen mir andere, Süchtige und Nicht-Süchtige, ihn zu finden. Sie haben das Werk meiner Höheren Macht getan und nun bin ich an der Reihe, dasselbe zu tun, indem ich etwas für die Genesung anderer tue. So gesehen ist klar, warum die Gemeinschaft die Basis der Genesung ist.

Ich bin über zwanzig Jahre clean, aber trotzdem muss ich immer noch dem Drang widerstehen, mich von den anderen im Meeting dadurch zu distanzieren, dass ich auf die Unterschiede achte. Heute ist mir aber bewusst, dass hier meine Krankheit wirkt, die sich durch NA gestört fühlt. Ich versuche immer, auf die Gemeinsamkeiten von mir und den anderen Süchtigen zu achten. Das heißt nicht, dass wir alle gleich sind. In NA bedeutet Einigkeit etwas anderes als Einförmigkeit, und das zeigt sich am besten darin, wie unterschiedlich die einzelnen Süchtigen sein können. NA bietet genügend Raum für jede Art von Menschen. Es ist egal, welche Sprache wir sprechen, welche Vorstellungen wir von Politik oder unserer Höheren Macht haben oder wie wir aufgewachsen sind. In dieser vielfältigen und ständig wachsenden Gruppe von Menschen finden alle jemanden, der zu ihnen passt, sei es als Sponsor, als Vertrauter oder als vertrauensvoller Neuer. Kein Süchtiger muss sich je ausgeschlossen fühlen, ob er aus dem Elfenbeinturm kommt oder aus der Gosse.


Geschichte aus: Basic Text 6. Auflage, Copright Narcotics Anonymous World Services, Inc. Chatsworth, California

EnglishFrenchGermanItalian